iusNet Strafrecht-Strafprozessrecht

Schulthess Logo

Strafrecht-Strafprozessrecht > Rechtsprechung > Bund > Allgemeines strafrecht > Darf ein Einzelrichter die Verwahrung...

Darf ein Einzelrichter die Verwahrung anordnen?

Darf ein Einzelrichter die Verwahrung anordnen?

Rechtsprechung
Allgemeines Strafrecht

Darf ein Einzelrichter die Verwahrung anordnen?

BGE 145 IV 167 | 6B_1098/2018

Das Kantonsgericht Wallis sprach X. am 20. September 2012 der mehrfachen versuchten und der mehrfachen vollendeten sexuellen Handlungen mit Kindern, der mehrfachen versuchten und der mehrfachen vollendeten sexuellen Nötigung, der mehrfachen versuchten Vergewaltigung, der Vergewaltigung, der qualifizierten Vergewaltigung, der einfachen Körperverletzung und der Drohung schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und acht Monaten. Das Gericht schob den Vollzug der Strafe zugunsten einer stationären therapeutischen Massnahme auf. Am 15. Dezember 2017 stellte das Amt für Sanktionen und Begleitmassnahmen dem Straf- und Massnahmenvollzugsgericht den Antrag, die stationäre therapeutische Massnahme sei aufzuheben und stattdessen die Verwahrung anzuordnen. Das Gericht ordnete daraufhin die Verwahrung an. X. wehrt sich vor Bundesgericht gegen die Anordnung der Verwahrung. 

Der Beschwerdeführer macht geltend, das vorliegende Verfahren sei mit verschiedensten Mängeln behaftet. Die kantonalen Instanzen hätten mehrere Verfahren vermischt (Verfahren zur Verlängerung respektive Aufhebung einer stationären therapeutischen Massnahme und Verfahren betreffend die Anordnung der Verwahrung). Dies sei unzulässig. Für die genannten Verfahren würden unterschiedliche Zuständigkeiten und Verfahrensrechte gelten. Das Verfahren betreffend Aufhebung der stationären therapeutischen Massnahme sei ein Vollzugsverfahren und könne in keinem Fall mit Strafverfahren vereinigt werden.

Interessant sind die Ausführungen des Bundesgericht zu den kantonal unterschiedlichen Verfahren: Die Deutschschweizer Kantone sehen, soweit ersichtlich, mehrheitlich eine zweigeteilte Zuständigkeitsordnung mit je einem separaten Instanzenzug vor. Über den vollzugsrechtlichen Entscheid der Aufhebung einer Massnahme befindet in einem ersten Schritt die Vollzugsbehörde. Dieser Entscheid kann nach Ausschöpfung des kantonalen - meist verwaltungsgerichtlichen - Instanzenzugs beim Bundesgericht mit Beschwerde in Strafsachen angefochten werden. Ein anderes System sehen namentlich die Kantone Genf, Waadt, Wallis und das Tessin vor. In den genannten Kantonen ist eine gerichtliche Behörde sowohl für die Aufhebung von Massnahmen als auch für die Anordnung der Rechtsfolgen zuständig. Der Kanton Wallis überträgt die Kompetenz in diesem Bereich dem Straf- und Massnahmenvollzugsgericht.

Ob die Vereinigung der Kompetenzen in einer einzigen gerichtlichen Instanz zulässig ist, wurde bisher vom Bundesgericht nicht entschieden. Das Bundesgericht kommt jedoch zum Schluss, dass die Kantone diesbezüglich in ihrer Gerichts- und Behördenorganisation frei seien. Gründe die dagegen sprechen würden, seien keine ersichtlich. 

Weiter hatte das Bundesgericht zu klären, welches Verfahrensrecht und welche Rechtsmittel zur Anwendung gelangen, in Kantonen, die das Vollzugsgerichtsmodell kennen. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers schreibt das Bundesrecht nicht zwingend vor, dass der vollzugsrechtliche Aufhebungsentscheid auf dem verwaltungsgerichtlichen Rechtsweg anzufechten ist. Auch bezüglich des anwendbaren Verfahrensrechts im Rechtsmittelverfahren steht es den Kantonen frei, die StPO unter dem Titel ergänzenden kantonalen Rechts oder die kantonalen Verwaltungsgerichtsgesetze für anwendbar zu erklären. 

Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die Vorinstanz habe nicht als Einzelgericht entscheiden dürfen. Der Beschwerdeführer beruft sich auf die Bestimmung von Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO. Dieser lässt sich e contrario entnehmen, dass eine Verwahrung nach Art. 64 StGB nicht von einem Einzelgericht angeordnet werden darf. Gemäss dem Bundesgericht muss als zentraler Gedanke der Auslegung zugrunde gelegt werden, dass die Anordnung einer Verwahrung ultima ratio ist und entsprechend einen einschneidenden Eingriff in die Rechte und die Freiheit der betroffenen Person darstellt. Aufgrund dessen schreibt Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO für das erstinstanzliche Verfahren explizit vor, dass die Verwahrung nicht von einem Einzelgericht angeordnet werden darf. Nichts anderes kann für das Rechtsmittelverfahren gelten. Dem Entscheid im Rechtsmittelverfahren kommt dieselbe Tragweite zu wie dem Entscheid des erstinstanzlichen Gerichts. Indem die Vorinstanz den Entscheid über die Anordnung der Verwahrung als Einzelgericht fällte, verletzte sie Bundesrecht. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde in diesem Punkt gut. Das Kantonsgericht Wallis muss nun nochmals in gesetzeskonformer Besetzung über den Fall entscheiden.

iusNet StrafR-StrafPR 02.04.2019