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Die Berücksichtigung der erwarteten Auswirkungen der teilbedingten Strafe bei deren Anordnung

Die Berücksichtigung der erwarteten Auswirkungen der teilbedingten Strafe bei deren Anordnung

Kommentierung
Allgemeines Strafrecht

Die Berücksichtigung der erwarteten Auswirkungen der teilbedingten Strafe bei deren Anordnung

I.     Teilbedingte Strafen

Gemäss Art. 43 Abs. 1 StGB1 kann das Gericht den Vollzug einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens drei Jahren teilweise aufschieben, wenn dies notwendig ist, um dem Verschulden des Täters genügend Rechnung zu tragen. Diese Regelung des teilbedingten Vollzugs sorgt immer wieder für Unklarheiten. Daher ist es begrüssenswert, dass sich das Bundesgericht in diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid mit drei unklaren Punkten beschäftigt: Die teilbedingte Strafe bei vorbestraften Tätern, die Berücksichtigung der Auswirkungen der teilbedingten Freiheitsstrafe für die Bewertung der Legalprognose und der Rolle des Verschuldens für die Anordnung von teilbedingten Strafen.

II.     Die teilbedingte Strafe bei vorbestraften Tätern

Für die Anordnung einer teilbedingten Strafe sind neben dem Anwendungsbereich (Freiheitsstrafe von einem bis drei Jahren)2 die subjektiven Voraussetzungen des bedingten Vollzugs nach Art. 42 StGB zu beachten. So setzt die teilbedingte Strafe eine begründete Aussicht voraus, dass der Täter damit von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten werden kann.3 Bei Tätern, die innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Tat zu einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten verurteilt wurden, ist eine teilbedingte Strafe nur möglich, wenn besonders günstige Umstände vorliegen (Art. 42 Abs. 2 StGB). Darunter sind Umstände zu verstehen, die ausschliessen, dass die Vortat die Bewährungsaussicht verschlechtert. Dies ist beispielsweise anzunehmen, wenn die neuerliche Straftat mit der früheren Verurteilung in keinem Zusammenhang steht oder bei besonders positiven Veränderungen in den Lebensumständen des Täters.4 Das Bundesgericht bestätigt, was bereits aus der Anwendung von Art. 42 Abs. 2 StGB auf teilbedingte Strafen offensichtlich ist: Dass ein Täter (einschlägig) vorbestraft ist, schliesst die Ausfällung einer teilbedingten Strafe klarerweise nicht aus.5

III.     Die Berücksichtigung der Auswirkungen der teilbedingten Freiheitsstrafe für die Bewertung der Legalprognose

Aufgrund der überschneidenden Anwendungsbereiche von bedingtem und teilbedingtem Vollzug ist die Legalprognose je nach ausgesprochener Strafhöhe unterschiedlich zu berücksichtigen:

  • Freiheitsstrafe zwischen 1 und 2 Jahren: In diesem Bereich ist neben dem teilbedingten auch der vollständig bedingte Vollzug möglich (Art. 42 Abs. 1 StGB). Sind dessen Voraussetzungen erfüllt, so ist er zwingend anzuordnen. Der teilbedingte Vollzug ist erst anzuordnen, «wenn dem Täter zwar keine günstige Prognose gestellt werden kann, der bloss teilweise vollzogene Strafteil jedoch ausreicht, um den Täter von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten»6. Das Bundesgericht verdeutlicht dieses Stufensystem, indem es ausdrücklich festhält, dass aus einer negativen Prognose hinsichtlich des vollständigen Strafaufschubs nicht folgt, dass kein teilbedingter Vollzug möglich ist.7
  • Freiheitsstrafe zwischen 2 und 3 Jahren: Hier ist ausschliesslich eine teilbedingte Strafe möglich, weshalb zu prüfen ist, ob dem Täter eine günstige Prognose gestellt werden kann. Ist dies zu bejahen, ist die Anordnung des teilbedingten Vollzugs zwingend.8

Die Bewährungsaussichten des Täters sind anhand einer Gesamtwürdigung aller wesentlichen Umstände einzuschätzen.9 Im vorliegenden Entscheid hat das Bundesgericht verdeutlicht, dass bei dieser Prüfung auch den Besonderheiten des teilbedingten Strafvollzugs Rechnung zu tragen ist. So ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der teilweise Vollzug einer Freiheitsstrafe die Einschätzung der Legalbewährung positiv beeinflussen kann.10 Es ist zu beachten, dass der Täter einen Teil der Freiheitsstrafe verbüssen muss und ihm danach der spätere Vollzug des aufgeschobenen Strafteils droht.

Diese Warnwirkung des teilbedingten Strafvollzugs ist insbesondere bei der Frage, ob besondere Umstände i.S.v. Art. 42 Abs. 2 StGB vorliegen, zu berücksichtigen. Gemäss dem Bundesgericht kann ein teilweiser Vollzug der Strafe in Verbindung mit der Drohung eines späteren Vollzugs des aufgeschobenen Teils gerade bei Wiederholungstätern, die zuvor noch nie eine Freiheitsstrafe verbüsst haben, die Rückfallneigung soweit verändern, dass die Erwartung auf Legalbewährung wieder auflebt.11 Führen die erwarteten Auswirkungen des Teilvollzugs dazu, dass der Täter keine ungünstigen Bewährungsaussichten mehr hat, ist ihm der teilbedingte Strafvollzug zu gewähren.12

Mit dieser Berücksichtigung der Auswirkungen der teilbedingten Freiheitsstrafe bei der Bewertung der Bewährungsaussichten wird die spezielle Stellung des teilbedingten Vollzugs als Stufe zwischen vollbedingter und unbedingter Strafe beachtet. Gerade bei Wiederholungstätern ermöglicht dies dem Gericht, keine Alles-oder-Nichts-Entscheidung fällen zu müssen, indem die erwarteten Auswirkungen des teilbedingten Vollzugs dessen Anordnung ermöglichen. Das Bundesgericht nimmt damit eine notwendige und begrüssenswerte Korrektur seiner Rechtsprechung vor. So hatte es die Berücksichtigung der Auswirkungen der teilbedingten Freiheitsstrafe für die Bewertung der Legalprognose zuvor ohne nähere Begründung ausgeschlossen.13 Darüber hinaus stellt der Entscheid klar, dass die Bewertung der Legalprognose auch bei vorbestraften Tätern eine Abstufung ermöglicht. Selbst wenn sowohl der bedingte als auch der teilbedingte Strafvollzug bei solchen Delinquenten besonders günstige Umstände i.S.v. Art. 42 Abs. 2 StGB voraussetzen, ist es ohne weiteres möglich, dass diese Umstände einen vollbedingten Vollzug noch nicht rechtfertigen, einen teilbedingten hingegen schon.14

IV.     Die Rolle des Verschuldens

Die bisherigen Ausführungen und auch der Entscheid des Bundesgerichts verdeutlichen, dass für die Anordnung einer teilbedingten Freiheitsstrafe auf die Legalprognose zurückzugreifen ist. Dies widerspricht scheinbar dem Gesetzeswortlaut. So ist der teilbedingte Vollzug gemäss Art. 43 Abs. 1 StGB anzuordnen, wenn dies notwendig ist, um dem Verschulden des Täters genügend Rechnung zu tragen.

Dieses Abstellen auf das Verschulden des Täters wird in der Lehre immer wieder als Verfehlung angesehen. Es ist systematisch unlogisch, ein Strafzumessungselement bei der Entscheidung über die Vollzugsart erneut zu berücksichtigen. Das würde verschiedene unklare Abgrenzungsfragen zur Strafzumessung ergeben.15 Demnach stellt auch die Praxis vorwiegend nicht auf das Verschulden, sondern die Bewährungsaussichten ab. Im vorliegenden Entscheid erteilt das Bundesgericht dem Verschuldenskriterium – zumindest teilweise – eine ausdrückliche Abfuhr. So hält es fest, dass sich die Entscheidung zwischen bedingter und teilbedingter Strafe «im überschneidenden Anwendungsbereich zwischen einem und zwei Jahren Freiheitsstrafe ausschliesslich anhand der Legalprognose [beurteilt]. Der Verschuldensklausel kommt erst ab Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren eigenständige Bedeutung zu»16. Letzteres vermag nicht zu überzeugen. Auch im Bereich zwischen zwei und drei Jahren Freiheitsstrafe kann das Verschulden nicht entscheidend sein. Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, ist die Legalprognose durchwegs das entscheidende Kriterium für die Anordnung des teilbedingten Vollzugs.17 Er ist anzuordnen, wenn der bedingte Strafvollzug nicht genügt, der unbedingte Vollzug jedoch nicht notwendig ist, um den Täter von der Begehung weiterer Verbrechen oder Vergehen abzuhalten. Auf Überlegungen zum Verschulden ist gänzlich zu verzichten.18 Zu dieser Einsicht werden in Zukunft hoffentlich auch das Bundesgericht und der Gesetzgeber gelangen.

  • 1. Der Bundesgerichtsentscheid bezieht sich auf die Rechtslage vor dem 1.1.2018. Die Erwägungen sind jedoch ohne Weiteres auf die neue Rechtslage übertragbar. So wurde bei den teilbedingten Strafen hauptsächlich der Anwendungsbereich eingeschränkt, indem teilbedingte Geldstrafen abgeschafft wurden.
  • 2. Vor dem 1.1.2018 war auch der bedingte Vollzug von Geldstrafen und gemeinnütziger Arbeit möglich (aArt. 43 Abs. 1 StGB).
  • 3. BGer vom 5.7.2018, 6B_377/2017, E. 2.1; D. Jositsch/G. Ege/Ch. Schwarzenegger, Strafrecht II, 9. Aufl., Zürich 2018, 160; R.M. Schneider/R. Garré, in: Basler Kommentar Strafrecht I, hrsg. von M.A. Niggli/H. Wiprächtiger, 3. Aufl., Basel 2013, Art. 43 N 11 f., S. Trechsel/M. Pieth, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, hrsg. von S. Trechsel/M. Pieth, 3. Aufl., Zürich 2018, Art. 43 N 2.
  • 4. BGer vom 5.7.2018, 6B_377/2017, E. 2.2; Jositsch/Ege/Schwarzenegger (Fn. 3), 154 f.
  • 5. BGer vom 5.7.2018, 6B_377/2017, E. 3.1.2; so bereits BGE 134 IV 1 E. 4.2.3.
  • 6. Jositsch/Ege/Schwarzenegger (Fn. 3), 160.
  • 7. BGer vom 5.7.2018, 6B_377/2017, E. 3.1.1.
  • 8. Die Formulierung als Kann-Vorschrift ist insofern ungenau; vgl. BSK StGB I-Schneider/Garré (Fn. 3), Art. 43 N 16.
  • 9. BGE 134 IV 140 E. 4.4; BGer vom 5.7.2018, 6B_377/2017, E. 3.2; BSK StGB I-Schneider/Garré (Fn. 3), Art. 43 N 12.
  • 10. BGer vom 5.7.2018, 6B_377/2017, E. 3.1.1.; vgl. auch BGer vom 9.5.2018, 6B_1005/2017, E. 4.
  • 11. BGer vom 5.7.2018, 6B_377/2017, E. 3.3.
  • 12. BGer vom 5.7.2018, 6B_377/2017, E. 3.2.
  • 13. BGer vom 8.1.2015, 6B_1032/2014, E. 2.2.1; BGer vom 16.5.2008, 6B_540/2007, E. 5.2.
  • 14. A.M. BSK StGB I-Schneider/Garré (Fn. 3), Art. 43 N 13, die ausführen, dass entweder besonders günstige Umstände vorliegen oder eben nicht und deshalb der teilbedingte Vollzug bei vorbestraften Tätern im Bereich von Freiheitsstrafen zwischen einem und zwei Jahren nicht möglich sei, da jeweils der bedingte Strafvollzug angeordnet werden müsse. Diese Einschätzung wird vom Bundesgericht klar widerlegt, indem eine teilbedingte Freiheitsstrafe von 18 Monaten gestützt wird.
  • 15. Vgl. Jositsch/Ege/Schwarzenegger (Fn. 3), 125, 159 f.; BSK StGB I-Schneider/Garré (Fn. 3), Art. 43.
  • 16. BGer vom 5.7.2018, 6B_377/2017, E. 3.1.1.
  • 17. Jositsch/Ege/Schwarzenegger (Fn. 3), 160.
  • 18. Jositsch/Ege/Schwarzenegger (Fn. 3), 125.
iusNet STR-STPR 15.08.2018